Die Begegnung mit den Werken Evelyn Kreineckers ist vor allem eine Begegnung mit dem Menschen unserer heutigen Gesellschaft – oder besser gesagt mit den Menschen, handelt es sich doch meist um komplexe Verdichtungen zahlreicher Figuren in vielschichtigen Bildgeweben. Eine enorme Fülle an Einzelszenen und Details wird in den jeweiligen Werkgruppen ausgebreitet und in immer wechselnden Ausschnitten variiert. Die Serie ist dabei eine konstante Struktur, die den dargestellten Motiven von vornherein einen hohen Grad an Dynamik und Wandelbarkeit verleiht – wie Momentaufnahmen eines nie abreißenden Bilderstroms, dessen Intensität in jedem einzelnen Werk spürbar ist. Die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft wird wie ein Grundthema auf unterschiedlichen Ebenen verhandelt. Bei den „Betrachtungen“ (2014) fokussiert Evelyn Kreinecker in einer Sammlung verschiedener Alltagsszenen auf die gerichteten Blicke und gelenkten Aufmerksamkeiten der dargestellten Personen und nimmt dabei auf einer Metaebene auch sich selbst als beobachtende Künstlerin und uns als Betrachtende hinein in das Geschehen. In der Serie „Konzentration“ (2014) hingegen löst sich der einzelne Mensch in der abstrahierten Masse nahezu vollkommen auf.

Die besondere Qualität in diesem künstlerischen Prozess tritt vor allem dort zu Tage, wo diese beiden Aspekte – das Herausarbeiten von Charakteren und Stimmungen einerseits und die Darstellung verdichteter Menschenansammlungen andererseits – miteinander verschränkt werden, wie etwa in der Serie „Mengenlehre“ (2015 – 2017). Die meist aus der Vogelperspektive gezeigte Konzentration dynamischer Interaktionen lässt sich mit einem Blick nicht fassen, da die detailreiche Malweise jedem einzelnen Individuum seine Persönlichkeit verleiht und so um jede Figur eine eigene Sub-Szene entfaltet, die sich ihrerseits ebenso wenig festhalten lässt und an ihren Rändern in die Gesamtszene ausläuft. Der Blick oszilliert zwischen der Makro- und Mikroebene, verliert sich in Details, sucht den Überblick, folgt Bewegungen, reagiert auf Blicke, und wird so hineingezogen in das Bild, zum Akteur in der Menge. Es scheint paradox, dass sich diese Sogwirkung trotz oder gerade durch die dokumentarische, neutral beobachtende Darstellungsweise entfaltet – der Blick kann sich nicht passiv der Interpretationsvorgabe einer geschlossen komponierten Dramaturgie anschließen, sondern taucht unvoreingenommen und auf sich selbst zurückgeworfen in die vielschichtige Szenerie ein.

In der aktuellen Serie „Wegstücke“ nimmt Evelyn Kreineckers komplexe Bildsprache den Aspekt des Unterwegsseins aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick. Die Motive, die die Künstlerin aus allen möglichen Bildquellen des Alltags sammelt, zeigen unterschiedlichste Situationen von Menschen, die in Bewegung sind. Wieder erscheinen sie in Gruppen und größeren Ansammlungen, nun aber unterliegt ihre Dynamik einer gemeinsamen Richtung, unweigerlich denkt man an ein „Woher“ und „Wohin“. Von einem Ort zu einem anderen zu gelangen, alleine oder in der Gruppe, um etwas zu erreichen oder zu verlassen, ist eine wesentliche Dimension des Lebens. Menschsein heißt nicht nur, sich mit den ständigen Wandlungen der Umgebung mitzubewegen, sondern auch über die eigenen Wege zu reflektieren – Wege, die nicht nur zu geografischen Zielen führen, sondern auf all die Orte des Begehrens, Hoffens, Strebens bezogen sein können, auf Positionen in der Gesellschaft oder auf den Status im eigenen sozialen System ganz allgemein. Wovon wir wegwollen und wo wir hinwollen, ob wir etwas als „Ort“ und Ankommen erleben oder als Übergang, wird stark geprägt vom jeweiligen soziokulturellen Umfeld. Wem dabei welche Wege offen stehen und welche nicht, wird von gesellschaftlichen und politischen Strukturen bestimmt, die sich hier nicht nur in Gesetzen und Wertehaltungen sondern bis in den Mikrobereich der Selbstwahrnehmung des einzelnen Individuums subtil manifestieren. So ist nicht nur der Mensch immer unterwegs in seinem Streben, auch seine Systeme und deren „Wegnetze“ unterliegen einem ständigen Wandel. Evelyn Kreineckers künstlerisches Interesse gilt aber nicht vorrangig der Darstellung dieser Strukturen und wie sie unser Verhalten beeinflussen. Sie zeigt Wegstücke, Ausschnitte, die den Aspekt des Unterwegsseins, der all den unterschiedlichen Szenen in gleicher Weise innewohnt, soweit heranzoomt, dass gerade darin eine zeitlose und unveränderliche Grunderfahrung des Menschseins zutage tritt.

Die Themen von Individuum und Masse, Fließen und Festhalten, lässt Evelyn Kreinecker in direkter Weise mit dem komplexen Bildgefüge ihrer Malerei korrespondieren. Ihr Arbeitsprozess beginnt mit dem freien Auftragen von Farbe auf die Leinwand, am Boden liegend, mit dickem Pinsel und freier Geste und einem intuitiv ausgewählten Farbspektrum. Auf diesen im Ergebnis nie ganz vorhersehbaren ersten Schritt reagiert die Künstlerin mit einer zweiten Schicht, für die sie verschiedene Stoffe als Schablone verwendet, um deren Muster abzubilden. Diese Ebene, die in der Serie Betrachtungen erstmals als Metapher im Dialog von Privatheit und Öffentlichkeit auftritt, fungiert nicht nur ganz grundsätzlich als Trennung zwischen Innenraum und Außenraum, Vordergrund und Hintergrund – die Textilien, die ihrerseits sowohl Produkt sind als auch Ausgangsmaterial für die formgebenden Schnitte späterer Bearbeitungsprozesse, besetzen auch in motivischer Hinsicht die Ebene zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Das Ornament ist weder gestisch-abstrakter Ausdruck noch illusionistischer Bildraum. Von beiden Dimensionen unabhängig tritt es dennoch als gestaltete Form in Erscheinung, die in ihrer Wiederholung ein potentiell unendliches und verbindendes Netz bildet, das der gegenständlichen Ebene zugrunde liegt. Darauf formieren sich aus dem von der Künstlerin gesammelten Bildmaterial Konstellationen, die in fein abgestimmten Kompositionen in Dialog mit den darunterliegenden Farbschichten treten und dadurch selbst in das Fließen und Sich-Verwandeln einzutreten scheinen. Die mit Kohle gezeichneten und in Öl ausmodellierten Figuren lassen in ihrer Farbigkeit den abstrakten Bildraum durchleuchten und werden dadurch in das allumfassende Licht einer dichten malerischen Atmosphäre getaucht. Die Farben und Formen der ersten Schichten erscheinen wie das gestalterische Potenzial, das allgemeine Umfeld, aus dem heraus das individuelle Motiv hervortritt und wieder hinabsinkt.

Neben der Malerei arbeitet Evelyn Kreinecker immer wieder auch in der Technik des Linolschnitts zu den einzelnen Bildserien. Bei den traces verwendet sie dafür Ausschnitte aus ihrem Animationsfilm Wegstücke. Hierbei tritt die Druckplatte als verbindendes All-Over zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit auf. An Stelle von gestischen Zwischenräumen und Nuancen eröffnet sich in den scharf umrissenen Volltonfarben der einzelnen Druckplatten ein technischer Aspekt – der Vorgang der Reproduktion und Variation, in dem das Druckklischee auch auf semantischer Ebene mit den immer wieder kehrenden Stereotypen in Medien und Gesellschaft korrespondiert.

Der Dialog zwischen Inhalt und Medium, motivischer Ebene und technischer Umsetzung, erweitert sich im speziellen Format des Stop-Motion-Films in eine weitere Dimension. Evelyn Kreinecker arbeitet dazu mit Kohle auf Leinwand und fotografiert die einzelnen Zustände. In der zeitlichen Abfolge entwickeln sich dadurch nach und nach die einzelnen Szenen, die in einem kontinuierlichen Hinzufügen und Wegnehmen fließend ineinander übergehen. Während sich ein neues Motiv noch in das aktuelle Bild einschreibt, wird dieses bereits von der nächsten Szene überlagert. Das jeweilige Zwischenbild kann den Bildraum nie ganz für sich beanspruchen, sondern steht in fließendem Dialog mit den noch sichtbaren Fragmenten der Vergangenheit und den sich schon herauskristallisierenden Elementen der Zukunft. Die Leinwand, die sonst den künstlerischen Ausdruck festhält und sichtbar macht, wird hier zu einer Projektionsfläche, auf der die assoziierten Bilder vorbeifließen. In dieser Technik wird die Dynamik, wie sie auch in den Gemälden dieser Serie vorherrscht, noch weiter gesteigert, darüber hinaus verkörpert sie aber auch „innere“ Bewegungen: die ruhende Leinwand, die wie das Bewusstsein den unveränderlichen und nie ganz fassbaren Rahmen schafft für den unablässig fließenden Gedanken- und Wahrnehmungsstrom. In einem sich ständig neu arrangierenden Kontext unterliegen auch die einzelnen Inhalte und Bedeutungen permanent den verschiedensten Wandlungen und Verschiebungen. Solange der Strom fließt, lässt sich der Erkenntnis- und Reflexionsprozess nicht abschließen. Am Ende des Animationsfilms wird die Zeichnungsebene zur Gänze ausradiert, zum Vorschein kommt die weiße Leinwand, auf der nun die Spuren aller vorangegangenen Motive wie Schatten gleichzeitig sichtbar werden. Ein Ort außerhalb von Raum und Zeit, in den nicht nur die Vergangenheit eingeschrieben ist, sondern auch das Potential für die unendlichen Variationen der Zukunft.

Johannes Holzmann